Städtebauarchitekt und Dozent, Barcelona
DIE SUPERBLOCKS VON BARCELONA: WIE STÄDTISCHE STRAßEN IN LEBENDIGE, GRÜNE UND GESUNDE ORTE VERWANDELT WERDEN
Seit der Gründungszeit der Stadt waren die Straßen ein zentraler Ort urbaner Lebendigkeit. Ein Ort der Begegnung und des Austauschs im weitesten Sinne. Auf den Straßen fand zwar auch Mobilität und Bewegung statt, aber in einer Weise, die auch andere Aktivitäten wie spielende Kinder, Erholung, Treffen, Spaziergänge, Feiern, Ausruhen, Volksfeste, kulturelle Aktivitäten und sogar Proteste und Aufstände zuließ. In anderen Worten war die Straße ein Ort des urbanen Lebens, an dem Menschen zu Bürgern werden, an dem die Stadt einen Sinn als kollektiver Ort erhält.
DIE AUF DAS AUTO ZUGESCHNITTENE STADT
Leider führten die Industrialisierung und insbesondere die Einführung von Privatautos dazu, dass die Straßen radikal verändert wurden. Ein regelrechter Wahn nach einer funktionalen, produktiven und effizienten Stadt machte aus der Stadt einen reinen Ort für Mobilität und Transport, von motorisierten Fahrzeugen dominiert und besetzt. Asphalt wurde gegossen, das Stadtleben verschwand aus den Nachbarschaften, die Luft wurde verschmutzt, Lärm und Unfälle nahmen zu und es setzte sich ein zunehmend individualistischer und einsamer Lebensstil durch. Dann kamen die Auswirkungen des Klimawandels, die den Bedarf an einer tiefgreifenden Neubewertung, wie unsere Straßen und urbanen Lebensstile aussehen sollten, hervorhoben.
STÄDTISCHE STRASSEN NEU DENKEN
Es ist völlig klar, dass Straßen wieder als lebenswerte öffentliche Räume begriffen werden müssen. Als Gemeinschaftsräume, eine Erweiterung des Wohnraums, Räume, die das lokale Leben in der Nachbarschaft beflügeln, als neue gesunde gebaute Umgebungen. Aber wie schafft man das? In Barcelona hat die Superblock-Strategie einen Transformationsprozess der Straßen der Stadt zu etwas Neuem ermöglicht.
Mit ihrem dichten und kompakten urbanen Geflecht und gleichmäßig in der ganzen Stadt verteilten öffentlichen Einrichtungen können wir mit Recht behaupten, dass Barcelona bereits eine Stadt der Nähe ist. Dennoch ist es eine Stadt mit einigen größeren Problemen im öffentlichen Raum. Es gibt einen erheblichen Mangel an Grünflächen, im Schnitt sind pro Einwohner nur 7 Quadratmeter Grünfläche vorhanden. Es gibt in Barcelona keine großen Parks, nur ein paar mittelgroße. Daher wird oft gesagt, dass Barcelona eine Stadt ist, die eigentlich nur aus Straßen und Plätzen besteht. Es gibt ein ernstes Problem mit Luftverschmutzung und Lärmbelastung aufgrund eines Mobilitätsmodells, das kontinuierlich die Nutzung der Straßen durch das Auto priorisiert. Darüber hinaus ist das urbane Geflecht sehr schlecht an die neuen klimatischen Bedingungen angepasst und leidet bereits unter dem Hitzeinsel-Effekt.
Wenn die Stadt also eine Verbesserung ihrer Umwelt- und Gesundheitsbedingungen erreichen möchte, indem sie die Begrünung erhöht und Verschmutzung und Hitze reduziert, steht ihr keine andere Möglichkeit zur Verfügung, als das Straßennetz zu transformieren. Deshalb ergibt die Superblock-Strategie am meisten in einer Stadt wie Barcelona Sinn, und vielleicht wurde sie aus diesem Grund auch dort geboren.
WAS IST DIE SUPERBLOCK-STRATEGIE?
Grundlage der Superblock-Strategie ist der Übergang zu einem effizienteren Mobilitätsmodell, hin zu einer Mobilität, die weniger verschmutzt und weniger Raum einnimmt. Und das lässt sich nur erreichen, indem die aktuelle Situation korrigiert und die Priorität auf den Straßen den Fußgängern, Radfahrern und dem öffentlichen Nahverkehr anstelle privater Autos eingeräumt wird. Auf diese Weise kann die Anzahl der notwendigen Straßen für den Durchgangsverkehr reduziert werden. Diejenigen, die dafür nicht benötigt werden, verwandeln sich in „grüne Achsen“ – eine neue Art Straße, angepasst an den Klimawandel, mit besseren Umwelt- und Gesundheitsbedingungen und neuen Räumen, die das Leben als Gemeinschaft fördern.
In Barcelona wurde dieses Modell in verschiedenen Pilotprojekten in zwei Bereichen realisiert, 2016 in Poblenou und 2018 in Sant Antoni. 2019 zeigten die erhobenen Daten, dass die Anzahl der Autos und die Verschmutzung signifikant reduziert werden konnten und sich die sozialen Aktivitäten auf der Straße vervielfacht hatten. Also wurde entschieden, die Idee auf die ganze Stadt auszuweiten und den Wandel zu beschleunigen. Der Entwurf „Grüne Achsen“ wurde präsentiert. Dabei wurden auf einer Karte alle für den Durchgangsverkehr nicht erforderlichen Straßen identifiziert. Das entstandene Netzwerk ist eine neue, grüne und soziale Infrastruktur für die Stadt als Ganzes, die nicht nur eine neue Nähe schafft, sondern auch alle natürlichen urbanen Räume mit den gewonnenen Freiflächen verbindet.
DIE NEUGESTALTUNG VON EL EIXAMPLE
Zusätzlich wurde der zentrale Stadtteil El Eixample als prioritäres Maßnahmengebiet ausgewiesen. Dieser Stadtteil verfügt über ein kompaktes, dichtes urbanes Geflecht mit einem Netz aus orthogonalen Straßen, die ausschließlich auf Mobilität ausgerichtet sind und einen Großteil der die Stadt durchfahrenden Fahrzeuge aufnimmt. Autos und Asphalt nehmen mehr als 60 % der Fläche ein und es gibt keinerlei Stadtmobiliar, an dem man verweilen oder auf dem man sitzen könnte. Um das Superblock-Konzept in El Eixample umzusetzen, muss die Mobilität umfassend neuorganisiert werden. Je eine von drei Straßen soll vom Durchgangsverkehr befreit und in eine neue grüne Achse umgewandelt werden. Ausschlaggebend dabei ist, dass Autos auf diesen grünen Achsen zwar verkehren dürfen, aber an jeder Kreuzung abbiegen müssen, wodurch diese Straßen zu Anliegerstraßen anstelle von Durchgangsstraßen werden. Das reduziert die Anzahl der verkehrenden Fahrzeuge drastisch. So kann ein neues Netzwerk aus 21 grünen Achsen und 21 Plätzen geschaffen werden, das als Umwelt- und soziale Infrastruktur fungiert, den Komfort und die gesundheitlichen Bedingungen verbessert und auf systematische und ausbalancierende Art für mehr Grün- und Lebensräume im ganzen Gebiet sorgt. Auch auf den für die Mobilität verbleibenden Straßen passiert etwas: Die Zahl der Spuren für den Verkehr wird reduziert, um Busspuren und Radwege zu schaffen.
STÄDTISCHES DESIGN IN AKTION: INTERVENTIONEN 2020-2023
Im Zeitraum zwischen 2020 und 2023 wurde eine erste Phase der grünen Achsen entwickelt und realisiert, die Abschnitte von vier Straßen umfasste: Consell de Cent, Rocafort, Borrell und Girona sowie vier Plätze an den Kreuzungen dieser Straßen und an der Kreuzung mit der Enric-Granados-Straße. Gleichzeitig wurden auf den Hauptverkehrsachsen neue Radwege geschaffen.
Auf den neuen grünen Achsen spielen die Menschen die Hauptrolle im neuen Straßenmodell. Es entstand eine Plattform für universelle Barrierefreiheit, in der Fahrzeuge Gäste sind und Fußgänger stets Priorität haben. Fußgänger gehen in der Mitte, wodurch sie sich frei bewegen können, transversale Beziehungen zwischen den Fassaden ermöglicht werden und Aufenthaltsorte mit Stadtmobiliar entstehen. Die Straße wird als eine dreidimensionale Umweltinfrastruktur behandelt, die sich an die Auswirkungen des Klimawandels anpasst und die gesundheitlichen Bedingungen, den Komfort, das emotionale Wohlbefinden und die Biodiversität verbessert. Der Baugrund wurde regeneriert und erhielt eine bessere Wasserdurchlässigkeit. Die durchlässige Fläche wurde erhöht, nachhaltige urbane Drainagesysteme (SUDs) wurden eingearbeitet, neue Vegetation und Bäume gepflanzt. Die Straßen sind von einem reinen Ort der Mobilität zu einem Lebensraum geworden, einem Raum nach menschlichem Maßstab.
Seit ihrer Eröffnung erfreuen sich die vier grünen Achsen und die vier Plätze großer Beliebtheit und werden von den Anwohnern äußerst wertgeschätzt. An den Bänken und Tischen halten sich viele Menschen auf oder treffen sich. Die Plätze haben einen neuen öffentlichen Raum geschaffen, der für El Eixample etwas völlig Neues und Notwendiges ist. Die grünen Achsen ermöglichen etwas, das vorher unmöglich war: inmitten der Straße spazieren zu gehen.
Im Rahmen dieser ersten Phase wurde eine Gesamtfläche von 110.000 Quadratmetern transformiert, 4,65 Kilometer grüne Achsen und 8.000 Quadratmeter Plätze entstanden. Der Raum für Fußgänger hat sich um 58.000 Quadratmeter vergrößert, der Anteil der durchlässigen Flächen wurde von 1 % auf 15 % erhöht, die städtischen Grünflächen um 11.000 Quadratmeter erweitert und 400 neue Bäume unterschiedlichster Arten gepflanzt. Die Zunahme an Schatten und das Ersetzen des Asphalts haben die Oberflächentemperatur im Sommer um 5 °C gesenkt. Die Anzahl an Autos auf den grünen Achsen und in ganz El Eixample wurde um 17 % reduziert.
Die neuen grünen Achsen in Barcelona zeigen, dass es möglich ist, Straßen in neue Räume für das kollektive Leben, für mehr Nähe, Gesundheit und die Anpassung an neue klimatische Bedingungen zu verwandeln. Und das Beste an der Superblock-Strategie ist, dass sie sich hervorragend an jedes andere Stadtgefüge anpassen lässt.
BIOGRAFIE
Xavier Matilla Ayala ist als Städtebauarchitekt in Barcelona ansässig. Mit seinen 20 Jahren Erfahrung als städtischer und strategischer Planungsberater war er von 2019 bis 2023 als Chefarchitekt der Stadt tätig und hat zentrale Initiativen wie das Superblock-Programm verantwortet. Er doziert außerdem an der Universitat Politècnica de Catalunya und für den Masterstudiengang des IMB Institute of Barcelona.