Autor
Gerhard Hauber,
Executive Partner, Henning Larsen
04.09.2025

LERNEN VOM WASSER. WIE SINGAPUR NATURPROZESSE ZUR STADTGESTALTUNG NUTZT.

Wie gelingt die Synchronisation von Stadt und Natur?
Gerhard Hauber berichtet eindrucksvoll vom Wandel Singapurs zur wasserbewussten Stadt. Anhand eines konkreten Projekts zeigt er, wie technische, ökologische und soziale Aspekte zu einem neuen urbanen Narrativ verschmelzen – und wie Freiräume zu Orten kollektiver Resilienz werden können
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Als ich 2005 nach einem zwölfstündigen Flug und einem schnellen Frühstück im schwülen Schatten eines Hawker-Centers vor dem Bewertungsgremium des Public Utilities Board stand, war ich leicht benommen vor Müdigkeit und angesichts der Fremdartigkeit Singapurs. Adrenalindurchströmt präsentierte ich für das Büro Henning Larsen mit singapurianischen Partnern unsere Erfahrungen und Ideen für einen anderen Umgang mit Wasser in der urbanen Metropole. Das letzte Bild der Präsentation zeigte einen Mann, der am Rand des von uns geplanten Urbanen Gewässers am Potsdamer Platz in Berlin sitzt und seine Füße im Wasser kühlt.

Die integrative Kraft von Boden, Wasser ­und Pflanzen ist entscheidend für eine klimatisch akzeptable Zukunft. (…) Es geht um das Zulassen natürlicher Prozesse, um Resilienz gegen Extreme zu schaffen.
Gerhard Hauber,
Executive Partner, Henning Larsen
Aus der Vogelperspektive: Der Bishan Park als grüne Infrastruktur mit Renaturierung des Flusslaufs, integrierten Rückhalteräumen und hoher Aufenthaltsqualität.
Foto:
Henning Larsen GmbH

EIN BILD ALS IMPULSGEBER

Dieses Bild löste im Gremium sofort Reaktionen aus: Flüstern, Lächeln, zustimmende Gesten. Es traf exakt die Vision von Director Khoo Teng Chye, der sich die Zukunft Singapurs genauso vorgestellt hatte: Gewässer, so sauber, dass man ohne Scheu mit ihnen in Kontakt treten kann. Es war der richtige Impuls zur richtigen Zeit am richtigen Ort – ein Moment der Synchronizität, wie C. G. Jung sie beschreibt: Wenn ein inneres Erlebnis wie etwa eine Vision mit einem äußeren Ereignis in bedeutsamer Weise zusammenfällt.

In der Folge entwickelten wir einen Masterplan für das „Central Water­shed“ – einen kompletten Gegenentwurf zum bisherigen Umgang mit Regenwasser in Singapur. Statt es ausschließlich über 8.000 km Betonkanäle ins Meer zu leiten, sollte es dort bewirtschaftet werden, wo es auf den Boden trifft. Dezentral versickern, verdunsten, speichern, nutzen und – nur wenn nötig – ableiten, so lautete das neue Credo. Ziel war es, keine neue Infrastruktur zu schaffen, sondern ein integriertes Konzept zu entwickeln, das auf den Prinzipien der blau-grünen Infrastruktur fußt.

Dieser interdisziplinäre Ansatz verbindet Wassermanagement mit der Aufwertung des öffentlichen Raums für Naherholung und Stadtnatur. Daraus entstand das sogenannte ABC-Programm: Active – Beautiful – Clean. Regenwasser sollte zu einem selbstverständlichen Bestandteil jedes Grundstücks, Parks und jeder Straße werden.

BISHAN PARK: PILOTPROJEKT EINER NEUEN URBANITÄT

2008, das ABC-Programm war noch in den Kinderschuhen, gab es kein einziges Projekt, das diese neue Art des Umgangs mit Regenwasser im größeren Maßstab zeigte. Dann bot sich die Chance, den 60 ha großen Bishan Park in Singapur umzugestalten und unsere Vision gebaute Realität werden zu lassen. Dieser 1960 angelegte Park ist eine grüne Oase inmitten dichter Bebauung – vergleichbar mit dem Central Park in New York. Eine Sanierung war längst überfällig. Ein 2,7 Kilometer langer Betonkanal, der entlang des südwestlichen Ufers verlief, bot die Möglichkeit, Wasser gestaltend und dynamisch zu integrieren. Ziel war es, Hochwasserschutz, Biodiversität, dezentrales Regenwassermanagement, Naturerlebnis und Erholung miteinander zu verbinden.

Ein komplexer Planungsprozess begann. Vieles war neu, Bauweisen mussten geprüft und genehmigt werden, Verantwortlichkeiten und Budgets zwischen Behörden verhandelt und eine gänzlich neue Flusshydraulik modelliert werden. Mit Experten aus Deutschland bauten wir ein 100 m langes Teilstück, um tropentaugliche Alternativen für Krainerwände oder Weidenstecklinge zu erproben. Denn das natürliche Ufer musste sowohl Starkregen standhalten als auch Lebensraum für Flora und Fauna bieten.

Der Park selbst wurde als Überflutungsfläche konzipiert. Bei Starkregen nimmt er Wasser auf, verringert die Fließgeschwindigkeit und hydraulische Kraft (hydraulic overload) und schützt so tiefer gelegene Stadtteile. Gleichzeitig fördert er die Verdunstung und Versickerung des aufgestauten Regenwassers und trägt so zu einem naturnahen und lokalen Wasserhaushalt bei.

Der Fluss wird Teil des Alltags: Kinder und Erwachsene durchqueren das renaturierte Gewässer auf Trittsteinen.
Foto:
Henning Larsen GmbH
Erholung, Bewegung und ästhetische Qualität: Der Bishan Park bietet Raum für individuelle Aneignung.
Foto:
Henning Larsen GmbH

RÜCKKEHR DER WILDNIS

Seither erzählt der Park der Bevölkerung eine neue Geschichte: Er bringt dynamische Naturprozesse in die Stadt zurück. Bereits im ersten Jahr stieg die Biodiversität um 30 Prozent. Heute sind die verspielten Otter im Fluss beliebte Motive in sozialen Netzwerken – sichtbarer Ausdruck der zurückgekehrten Wildheit.

Die Parklandschaft bietet heute jede Menge Spiel- und Bewegungsraum und wird rund um die Uhr intensiv genutzt: Tai-Chi bei Sonnenaufgang, Fußball spielen, Picknicks auf einer der vielen Rasenflächen, abendliches Joggen.  Besonders bemerkenswert für Singapur: Der direkte Zugang zum Wasser ist nun erlaubt. Viele erleben dort erstmals das Gefühl von nassen Füßen im Fluss – und beobachten die lange Zeit verschwundenen Guppy-Fische.

TRANSFORMATION BEGINNT IM INNEREN

Äußere Transformation braucht eine innere Entsprechung. Über Jahrtausende haben wir uns immer weiter von der Natur entfremdet, sie als etwas Äußeres betrachtet – als Objekt unserer Kontrolle. Dadurch wurde die massive Veränderung unserer Erde erst möglich, ein Ergebnis davon ist die Klimakrise. Doch langsam wächst das Bewusstsein, dass die Rückkehr der Natur in unsere Städte und Siedlungen Teil der Lösung ist.

Die integrative Kraft von Boden, Wasser und Pflanzen ist entscheidend für eine klimatisch akzeptable Zukunft. Boden speichert und reinigt Wasser, Pflanzen kühlen durch Verdunstung und sind Lebensraum für Biodiversität. Es geht um das Zulassen natürlicher Prozesse, um Resilienz gegen Extreme zu schaffen. Wasser ist dabei ein einzigartiger Lehrmeister: Immer in Bewegung, veränderlich und doch konstant. Wissenschaftlich betrachtet stammt ein Großteil unseres Wassers aus Meteoriten – es ist älter als die Erde. Vielleicht war das Wasser in uns einst im All. Warum also nicht in Resonanz mit Regen und Wetter gehen – und der Natur Raum und Zeit geben, auch in unseren Städten?

Dynamische Prozesse, Zyklen und komplexe Wechselwirkungen machen sie stabil – gerade weil sie sich permanent verändern. Dies ist zugleich eine Voraussetzung, mit Extremen umzugehen. Wasser ist dabei der eindrücklichste Lehrmeister: beweglich, verbindend, kraftvoll und doch konstant – älter als die Erde selbst, wie wissenschaftliche Erkenntnisse nahelegen. Die Angst die Kontrolle zu verlieren, muss der Vision einer natürlichen Lebendigkeit weichen. Biodiversität und Wildnis in unserer direkten Umgebung stehen dafür, dass wir uns nicht nur mit uns selbst beschäftigen, sondern mit einer größeren Gemeinschaft, greater than the human world, die unser Überleben sichert.

Technische Gewässerführung vor der Umgestaltung – versiegelter Kanal im Bishan Park vor dem Umbau.
Foto:
Henning Larsen GmbH
Der neue Bishan Park verbindet Naherholung, Biodiversität und Regenwasser­management in einem multifunktionalen Freiraum.
Foto:
Henning Larsen GmbH

EINE NEUE ERZÄHLUNG BEGINNT

Der amerikanische Philosoph Charles Eisenstein sagt: „Symptome beruhen auf Systemen, Systeme beruhen auf Geschichten.“ Es braucht eine neue Erzählung – eine, die Verbundenheit mit der Natur fördert und Gedeihen über bloßes Wachstum stellt. Die „Bioregions“-Bewegung zeigt solch einen Weg: Sie ist an Kreisläufen, lokalen Wachstumszyklen, alternativen Wirtschaftsmodellen und im Denken in Naturgrenzen statt in politischen Grenzen orientiert. Welche Naturressourcen bietet eine Region? Wie viel können wir nutzen, ohne sie zu erschöpfen? Wie lassen sich urbane Reallabore schaffen, in denen Lebensmittel, Baustoffe und Medizin zirkulär entstehen – ohne die Grenzen zu überschreiten?

Auf diese Synchronizität – zwischen innerer Vision und äußerem Wandel – warte ich noch. Wie unsere Städte und Landschaften mit so einer Vision in Kopf und Herz aussehen könnten, dieses Bild gibt es. Es fehlt die physische Entsprechung. Die Reintegration von (Regen)Wasser ist für mich ein erster Schritt. Es braucht veränderte Planungsprozesse, neue Bautechniken, Normen, Denkweisen. Freiraumwende bedeutet für mich, ganz andere Bilder von Stadt und Landschaft zu erschaffen. Ein integriertes, mitunter chaotisches und dynamisch sich veränderndes Ausbalancieren zwischen Zeit und Raum für Wasser und Natur und den Anforderungen eines modernen Lebens.

Auch in den Köpfen der Planer verhindert oft ein tradiertes Bild kontrollierter, überdesignter Freiräume ein weiteres Annähern. Die Kombination aus der Re-Integration von Wasser und der steigenden Dringlichkeit von mehr Biodiversität auch und gerade in urbanen Räumen hat aus meiner Sicht die Kraft, hier neue Wege zu ermöglichen. Gehen wir ihn – mit Geduld, Ausdauer und der nie versiegenden Agilität, die uns die Natur so großartig vorlebt.

BIOGRAFIE

Gerhard Hauber ist Landschaftsarchitekt und Partner im internationalen Architekturbüro Henning Larsen. Seit 1996 prägt er die Entwicklung des Büros mit Hauptsitz in Kopenhagen maßgeblich mit und war am Aufbau der Standorte in Singapur, Peking und Portland beteiligt. Er leitet Projekte im In- und Ausland mit besonderem Fokus auf die Integration von Wasser in urbane Räume. Hauber ist Mitglied im Biodiversitätsbeirat der DGNB, lehrt an mehreren Hochschulen und engagiert sich für klimaresiliente Stadtentwicklung.

Rubrik
Projekte
Thema
# Gesellschaft # Klima # Stadtgrün
Foto:
Henning Larsen GmbH

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