Autor
Niklas Kramer,
ISA Internationales Stadtbauatelier
05.09.2025

Die Stadt als ganzes denken.

Warum Freiraum und Architektur zusammen geplant werden müssen.
Stadt und Freiraum sind keine Gegensätze – sie bilden ein untrennbares Ganzes. Niklas Kramer vom ISA Stadtbauatelier fordert mit seiner internationalen Erfahrung eine Planungspraxis, die Gebäude und Freiraum als gleichwertige Elemente einer nachhaltigen Stadtentwicklung begreift. In seinem Beitrag zeigt er auf, warum die Freiraumwende nicht bloß Ergänzung, sondern Voraussetzung für eine echte Bauwende ist – in Europa ebenso wie in Asien.
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Das Büro ISA Internationales Stadtbauatelier versteht die Stadt als komplexes Geflecht – als lebendigen Organismus, dessen funktionale, soziale und ökologische Vitalität nicht durch die bloße Addition einzelner Komponenten entsteht, sondern durch ihr Zusammenspiel. Auf diesem Verständnis basiert der Planungsansatz von ISA: Im Mittelpunkt steht stets die ganzheitliche Betrachtung von Mensch und Umgebung.

Städte sind mehr als eine Ansammlung funktionaler Einzelbausteine. Sie sind Lebensräume, die sowohl materielle als auch immaterielle Bedürfnisse erfüllen müssen – Orte, die Identität stiften, ästhetische Qualitäten bieten und emotionale wie soziale Erfahrungen ermöglichen. Gebäude und Freiräume sind Bestandteile eines gemeinsamen Gefüges, denn die Qualität des öffentlichen Raums ist dabei für das Wohlbefinden der Menschen ebenso entscheidend wie die Architektur selbst. Ohne eine umfassende Aufwertung und Integration der Freiräume bleibt jede Bauwende unvollständig. Die Freiraumwende ist daher keine Ergänzung zur Bauwende, sie ist deren Fundament. Klimaschutz, Klimaanpassung, Biodiversität, soziale Inklusion und urbane Resilienz sollten daher nicht als Belastungen, sondern als Treiber für eine nachhaltig orientierte Stadtentwicklung gesehen werden. Diese eröffnet die Chance auf eine aktiv gestaltete und gemeinschaftlich getragene Stadtlandschaft.

Ohne eine umfassende Aufwertung und Integration der Freiräume bleibt jede Bauwende unvollständig. Die Freiraumwende ist daher keine Ergänzung zur Bauwende, sie ist deren Fundament.
Niklas Kramer,
ISA Internationales Stadtbauatelier

EIN ERWEITERTES STADTVERSTÄNDNIS

Diese Herausforderungen verdeutlichen, dass die heutige Stadtentwicklung neue Denk- und Handlungsweisen erfordert. Es braucht ein neues Stadtverständnis, in dem Stadt und Landschaft zu einem neuen Ganzen zusammenwachsen. Dabei reicht es nicht mehr aus, Stadt und Landschaft zu bewahren. Vielmehr kommt es darauf an, sie zu kultivieren, weiterzuentwickeln und zu einer produktiven Stadt-Landschaft zu vereinen, in der Nachhaltigkeit nicht an der Fassade endet.

Obwohl die Bau- und Freiraumwende global an Bedeutung gewinnt und vielerorts vor ähnlichen Herausforderungen steht, unterscheiden sich ihre Ausprägungen je nach Region erheblich. Kulturelle Traditionen, politische Systeme, klimatische Gegebenheiten und gesellschaftliche Prioritäten prägen die lokalen Lösungsansätze maßgeblich.

 

IM VERGLEICH: BEWUSSTSEIN FÜR ÖFFENTLICHE RÄUME IN EUROPA UND ASIEN

 

In Deutschland und großen Teilen Europas hat sich in den vergangenen Jahren ein breites Bewusstsein für die Bedeutung öffentlicher Räume entwickelt – nicht zuletzt durch vielfältige Möglichkeiten zur Beteiligung der Öffentlichkeit an Planungsprozessen. Öffentliche Räume werden heute verstärkt als soziale, ökologische und klimatische Ressource erkannt. Freiräume werden zunehmend als wichtiger Bestandteil der sozialen Infrastruktur gesehen – sie sind Ort der Begegnung, fördern die Biodiversität und helfen, Folgen des Klimawandels abzumildern. In vielen asiatischen Ländern hingegen ist dieses Bewusstsein bislang vor allem innerhalb der Fachwelt vorhanden, während es in der breiten Gesellschaft erst allmählich wächst. Dennoch ist eine dynamische Entwicklung erkennbar: Der öffentliche Raum gewinnt strategische Bedeutung, insbesondere im Kontext von Urbanisierung und der Verbesserung städtischer Lebensqualität. Zentral gesteuerte Stadtentwicklungsprozesse ermöglichen es in vielen Fällen, großmaßstäbliche Freiraumprojekte schneller zu realisieren. China etwa hat sich vom Leitbild der technisierten Megacity zunehmend hin zu urbanen Ökosystemen entwickelt.

Perspektive für den Knotenpunkt Linping South Station: Hier lassen sich Gebäudestrukturen und Freiraum miteinander vernetzen.
Foto:
Städtebaulicher Wettbewerb „Digital and smart city of Linping“, ISA Internationales Stadtbauatelier
Funktionale Aufteilung des „Linping Landscape Campus“: Das Zusammenspiel von­ ­Nutzungsvielfalt, Freiraumqualität und städtebaulicher Integration prägt den Campus.
Grafik:
Städtebaulicher Wettbewerb „Digital and smart city of Linping“, ISA Internationales Stadtbauatelier

BEISPIEL LINPING – INTEGRATION VON FREIRÄUMEN IN DEN STADTORGANISMUS

Planerische Impulse wie sie das Büro ISA beim Wettbewerbsbeitrag „Digital and smart city“ für die chinesische Stadt Linping gesetzt hat, zeigen eine solche integrierte Strategie. Ziel ist, den öffentliche Raum nicht länger nur als repräsentative Kulisse, sondern als funktionalen Bestandteil einer alltagstauglichen und resilienten Stadtstruktur zu begreifen (siehe Abb.1). Ein Ansatz besteht darin, bestehende, bislang untergenutzte Freiraumstrukturen wie etwa die historischen Kanäle in Lingping zu bewahren, aufzuwerten und in die Stadt zu integrieren (siehe Abb.2 und 3). Dadurch soll nicht nur die städtebauliche Qualität gesteigert, sondern auch das Bewusstsein für die verborgenen Potenziale solcher Freiräume und deren Bedeutung für eine nachhaltige Stadtentwicklung gestärkt werden.

PLANEN IM GLOBALEN DIALOG: DIE STADT ALS GANZES NEU VERHANDELN

Unsere Aufgabe als Planende besteht deshalb darin, diesen internationalen Austausch aktiv mitzugestalten. Dabei kommt es darauf an, lokale Identitäten mit globalen Nachhaltigkeitszielen zu verbinden und unterschiedliche Planungskulturen wirklich zu verstehen. Durch einen offenen interkulturellen Dialog schaffen wir so Akzeptanz und Identifikation – die Grundlage für eine zukunftsfähige Gestaltung unserer Lebensräume.

Beim Planungsprozess müssen wir lernen, integraler zu denken. Das bedeutet, Hochbau und Landschaftsarchitektur nicht mehr getrennt, sondern im Maßstab des Stadtklimas, des Mikroökosystems und der sozialen Durchmischung zu betrachten. Die globale Bau- und Freiraumwende beginnt dort, wo wir nicht nur Gebäude nachhaltiger entwerfen, sondern die Stadt als Ganzes neu verhandeln. Mit klimapositiven Lösungsansätzen kann der Umweltbegriff neu gedacht werden, sodass Städte entstehen, die nachhaltig und gleichzeitig lebenswert sind.

Beim Planungsprozess müssen wir lernen, integraler zu denken. Das bedeutet, Hochbau und Landschaftsarchitektur nicht mehr getrennt, sondern im Maßstab des Stadtklimas, des Mikroökosystems und der sozialen Durchmischung zu betrachten.
Niklas Kramer,
ISA Internationales Stadtbauatelier
Foto:
ISA Internationales Stadtbauatelier

BIOGRAFIE

Niklas Kramer, Master of Engineering, studierte Stadtplanung an der Hochschule für Technik Stuttgart und ist dort seit 2023 als Lehrbeauftragter tätig. Ebenfalls seit 2023 ist er Partner im Büro ISA Internationales Stadtbauatelier mit Sitz in Stuttgart und Partnerbüros in Peking und Guangzhou. Er arbeitet an internationalen Stadtplanungsprojekten, etwa an der Entwicklung neuer Quartiere in Seoul und Shenzhen, sowie an freiraumplanerischen Aufgaben für deutsche Kommunen.

 

Rubrik
Positionen
Thema
# Design # Gesellschaft # Klima

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