Autor
Carlo Ratti,
Kurator der Architektur-Biennale Venedig 2025
05.09.2025

„FREIRÄUME SIND NIE NEUTRAL – ENTWEDER SIE HEILEN, ODER SIE TEILEN“

Ein Interview mit Carlo Ratti, Architekt, Stadtplaner und Kurator der Architektur-Biennale Venedig 2025
Als Kurator der Architektur-Biennale Venedig 2025 und Direktor des MIT Senseable City Lab erkundet Carlo Ratti, wie Freiräume ein Katalysator der städtischen Transformation werden können. Von anpassungsfähigen Straßenbildern bis hin zu öffentlichen Plätzen denkt er Architektur als kollaborative, ökologische Praktik neu. Für Ratti hängt die Zukunft von Städten davon ab, wie wir die Zwischenräume zwischen den Gebäuden gestalten – nicht als Übrigbleibsel, sondern als eine essentielle, sich fortentwickelnde Infrastruktur.
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Welche Rolle spielen Freiräume in Ihrer Arbeit als Architekt, Forscher und Planer?

Freiräume haben mich schon immer fasziniert – diese Orte, an denen Architektur porös wird. Ganz viel unserer Arbeit beschäftigt sich damit, wie Mobilität und Daten den öffentlichen Raum verändern können. Wir haben damit experimentiert, Straßen und Plätze als dynamische Systeme zu behandeln – empfindsam gegenüber den Menschen und der Umwelt zugleich.

Gab es einen Moment oder ein Projekt, das Ihre Wahrnehmung von Freiräumen für immer verändert hat?

Viel mehr, als ich aufzählen könnte – wie zum Beispiel an HubCab zu arbeiten, einem Projekt, das Taxifahrten in New York City auf einer Karte verzeichnet. Das hat gezeigt, wie viel Straßenkapazität überhaupt nicht genutzt wird. Freiräume sind nicht nur physisch – bisweilen sind sie zeitlich oder nehmen gar keine Form an. Man kann eine Straße umgestalten, indem man einfach ihre Nutzung umprogrammiert.

 

Welche Länder oder Städte haben global gesehen eine führende Rolle in der Freiraumwende gespielt? Was sind die ausschlaggebenden Faktoren für deren Erfolg?

 

Ich würde Medellín in Kolumbien hervorheben. Hier wurden durch urbane Akupunktur ungenutzte Hänge zu miteinander verbundenen öffentlichen Parks umgestaltet. Oder Seoul mit dem Fluss Cheonggyecheon. Der Erfolg dieser Städte basiert auf drei Faktoren: politischem Willen, genauer Ortskenntnis und der Bereitschaft, nicht nur für die Bürger, sondern gemeinsam mit ihnen zu gestalten.

AquaPraça wurde als adaptive Infrastruktur für steigende Meeresspiegel entworfen. Die mobile Plattform wird von der Architektur-Biennale Venedig zur COP30 in Belém reisen und dabei Platz für Dialoge über Klima, Wasser und die Zukunft des öffentlichen Raums bieten.
Foto:
CRA-Carlo Ratti Associati + Höweler + Yoon Architecture
Die Speakers‘ Corner auf der Architektur-Biennale Venedig bietet Raum für spontanen Dialog und öffentlichen Austausch. Sie ist Teil des Programms GENS, das Architektur als Plattform für kollektive Begegnungen neu denkt.
Foto:
Andrea Avezzù, Mit freundlicher Genehmigung von: La Biennale di Venezia

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen der Freiraumwende – global und lokal?

Wir müssen es schaffen, Freiräume nicht mehr als übriggebliebene Gebiete, sondern als zentrale urbane Infrastruktur zu begreifen. Und dieses Umdenken setzt eine stille Veränderung voraus: einen Wandel der Autorenschaft. Obwohl sie inhärent kollaborativ ist, klammert sich die Architektur noch zu sehr an den Mythos des Prometheus. Biennalen lieben es, „Visionäre“ zu feiern, obwohl die Werke, die sie zeigen, interdisziplinär sind. Wir haben ein anderes Modell vorgeschlagen, das aus der akademischen Forschung inspiriert ist: Mitautorenschaft. Alle werden gleichberechtigt genannt, zusammen mit einer Beschreibung ihres Beitrags. Wenn Anpassung eine kollektive Antwort auf eine globale Notwendigkeit ist, dann muss ihre Autorenschaft lokal kollektiv konzipiert sein.

 

Ihr kuratorisches Konzept für die Biennale hat das Ziel, Architektur neu zu denken. Gilt das auch für die Freiraumwende?

 

Unbedingt. Tatsächlich werden gerade in Bezug auf Freiräume die Grenzen zwischen natürlichen, künstlichen und kollektiven Intelligenzen am lebhaftesten verhandelt. Straßen, Plätze, Ufer – hier wird die Architektur zur ökologischen Schnittstelle. Also, ja, wenn man heute Architektur neu denkt, dann muss man auch Freiräume als adaptive Räume neu denken.

Denken wir zum Beispiel an AquaPraça, einen schwimmenden öffentlichen Platz, der von Venedig zur COP30 nach Belém reist – das ist ein Freiraum, der als Ort der Begegnung geschaffen ist und als mobile Infrastruktur dient, die sich dem schwankenden Meeresspiegel anpasst. Oder an Canal Café, das Wasser zu einem Gemeinschaftsgut macht, zu Kaffee aus gefiltertem Lagunenwasser. Die Idee dahinter ist, komplexe Umweltprobleme – wie die Wasserqualität oder die steigenden Meeresspiegel – in die einfachsten Handlungen unseres Alltags zu integrieren. Das heißt, ich glaube, wir fangen gerade erst an, das volle Potenzial zu erkunden. Es gibt noch viel Luft nach oben.

Welche Rolle spielt die Freiraumwende im Konzept der diesjährigen Biennale – und war sie aus Ihrer Sicht ausreichend repräsentiert?

Sie hat eine fundamentale Rolle gespielt. Viele der Projekte erkunden, wie öffentliche Räume und Freiräume klimatische Schocks absorbieren, gesellschaftliche Eingliederung fördern oder zwischen Spezies vermitteln können. Die Giardini werden traditionell als Hintergrund aufgefasst, sie sind aber auch ein historisches Artefakt einer Freiraumgestaltung. Dieses Jahr haben wir Projekte dazu ermutigt, über den Tellerrand hinauszuschauen – die Grenzen zwischen innen und außen zu verwischen. Zukünftige Biennalen könnten noch mehr tun, um die Gärten und die ungenutzten Räume zu aktivieren, nicht nur in Form von temporären Einrichtungen, sondern als Prototyp für eine Aktivierung. Post Office Pods hat die Frage gestellt: Wie arbeitet man in einem Garten? Es hat das Büro neu erfunden als einen Ort, an dem zwischenmenschliche Verbindungen und Innovation auch im digitalen Zeitalter aufblühen. Die Installation eines Coworking-Space im Außenraum ist ein Prototyp für die „Office Pods“. Diese sollen in renovierten Außenbereichen ländlicher Postämter der Poste Italiane oder anderen leeren Räumen, die als Coworking-Spaces umfunktioniert werden, eingesetzt werden.

 

Gab es eine Einreichung aus dem Kontext Freiraum, die Sie besonders beeindruckt und inspiriert hat, und wenn ja, warum?

 

Open Regeneration of Housing Estates, das in einer Pionierarbeit ein offenes, modulares System geschaffen hat, um Wohngebiete in Barcelona zu transformieren, fand ich sehr interessant. Das Projekt verwendet innovative, hölzerne Exoskelette, die an bestehende Gebäude montiert werden können und eine nachhaltige Möglichkeit zur Nachrüstung und für gemeinschaftlich genutzte Räume bieten. Das Design enthält anpassbare „Kits“ zur Reparatur, Erweiterung oder für funktionale Verbesserungen – damit Nachbarschaften durch flexible, nutzerbestimmte Aufbauten zukunftsfähig gemacht werden können.

Das Copenhagen Wheel verwandelt jedes Fahrrad in ein smartes, hybrides E-Bike, das Energie erzeugt und umverteilt, während es urbane Daten erhebt. Ein Symbol dafür, wie Mobilität, Technologie und Freiraum miteinander interagieren können, um die Stadt von der Straße aus zu reformieren.
Foto:
Max Tomasinelli
„Wir müssen es schaffen, Freiräume nicht mehr als übriggebliebene Gebiete, sondern als zentrale urbane Infrastruktur zu begreifen.“
Carlo Ratti,
Architekt, Stadtplaner und Kurator der Architektur-Biennale Venedig 2025

Die Biennale präsentiert Szenerien zwischen dystopischer Isolation und Anpassung an die Realitäten des Planeten. Welche Lehren lassen sich daraus für die Freiraumwende ziehen?

Sie erinnert uns daran, dass Freiräume nie neutral sind – entweder sie heilen, oder sie teilen. In der Klimaanpassung sind Freiräume unsere primäre Bezugsgröße: Parks mit Funktion als Flutbecken, Kühlungskorridore durch Bäume und Schutzräume für Krisen. Die Herausforderung dabei ist, diese Orte nicht festgelegt, sondern offen für Wandel und Anpassung zu gestalten, auch, was ihre Resilienz betrifft.

Durch Ihre Ausstellung zieht sich der Gegensatz zwischen „natürlich“ und „künstlich“. Wie kann diese Spannung in der Freiraumwende berücksichtigt werden?

Ich sehe das nicht als einen Gegensatz, sondern als einen Dialog. Projekte wie Talking to Elephants zeigen, wie Freiräume nichtmenschliche Intelligenzen einladen können. Design muss einen Informationsaustausch zwischen Natur und Technologie ermöglichen – sodass Parks zum Beispiel mit Sensoren ausgestattet sind und Blätterdächer unseren Dateninfrastrukturen Schatten spenden. Technologie ist essentiell – aber nur, wenn sie auch klug eingesetzt wird. Sensoren können uns verraten, wie Menschen sich bewegen, aber nicht, wie sie sich fühlen. Dafür brauchen wir hybride Ansätze: Echtzeitdaten für responsives Verhalten und Storytelling für Empathie. Das Ziel ist kein „smarter“ Raum – sondern ein intelligenter: achtsam, adaptiv und inklusiv.

Wie kann man Freiräume so gestalten, dass sie wieder kollektiv werden – in Zeiten der Polarisierung und Spaltung?

Wir müssen die Ausgangsbedingungen für Begegnung schaffen – und nicht nur Beschäftigung. Räume wie die Speakers‘ Corner auf der Biennale in Venedig, in denen unser Öffentlichkeitsprogramm GENS beheimatet ist, fördern eine Debatte ohne Kontrolle. Architektur kann keinen Dialog forcieren, aber sie kann ihn vorschlagen: indem sie Räume schafft, die lesbar, barrierefrei und ergebnisoffen sind. Schon kleine Dinge – Bänke, die einander gegenüberstehen, einladende Schwellen – können große Auswirkungen haben.

 

Wäre es eine gute Idee, alle zukünftigen Einreichungen für die Biennale zu verpflichten, den Freiraumkontext zu berücksichtigen?

 

Freiraum ist zu wichtig, um ein nachgeordneter Gedanke zu sein. Wenn wir wollen, dass Architektur die Herausforderungen unseres Jahrhunderts angeht – das Klima, Gerechtigkeit, Lebensfähigkeit – dann muss die Frage nach Freiräumen als adaptiven Räumen im Mittelpunkt stehen.

Canal Café nutzt gefiltertes Lagunenwasser, um Kaffee aufzubrühen. So wird Wasserqualität zu einem geteilten urbanen Erlebnis. Die Installation verwandelt Infrastruktur in ein sichtbares, mit den Sinnen erlebbares Gemeinschaftsgut.
Foto:
Marco Zorzanello, Mit freundlicher Genehmigung von: La Biennale di Venezia
Foto:
World Economic Forum | Mattias Nutt

BIOGRAFIE

Carlo Ratti ist Professor für praktische urbane Technologien am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, wo er das Senseable City Lab leitet. Er ist außerdem ordentlicher Professor am Institut für Architektur, gebaute Umwelt und Bautechnik an der Politecnico di Milano. Er ist Mitbegründer des internationalen Architektur- und Innovationsbüros CRA-Carlo Ratti Associati und hat in den USA und Europa mehrere Tech-Startups gegründet. Ratti hat in Turin, Paris und Cambridge studiert. Seinen Doktortitel erlangte er am MIT als Fulbright Scholar. Im Dezember 2023 wurde er als Kurator der Biennale Architettura 2025 in Venedig benannt.

 

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# Design # Gesellschaft

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